Die Vegetarierin by Kang Han

Die Vegetarierin by Kang Han

Autor:Kang, Han [Kang, Han]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Aufbau Digital
veröffentlicht: 2016-06-30T22:00:00+00:00


Bäume in Flammen

Sie steht an einer Haltestelle gegenüber dem Busbahnhof in Masok und betrachtet die regennasse Straße. Riesige LKW donnern lautstark auf der Schnellstraße vorbei. Es regnet sintflutartig. Die Tropfen prasseln heftig auf ihren Regenschirm. Es fehlt nicht viel, und sie durchlöchern ihn.

Sie ist nicht mehr jung und auch nicht sonderlich schön. Aber ihr Nacken beschreibt eine elegante Linie, und sie hat ehrliche Augen. Sie ist geschminkt, aber sehr dezent, und ihre fleckenlose Bluse ist tadellos gebügelt. Der gute Eindruck, den ihre Erscheinung hinterlässt, bringt ihr viel Sympathien ein. Darüber übersieht man leicht den Schatten, der auf ihrem Gesicht liegt.

Ihre Augen blitzen erfreut auf. Der Bus, auf den sie wartet, ist in der Ferne zu erkennen. Sie tritt auf die Straße und gibt Handzeichen. Das Fahrzeug, das mit großer Geschwindigkeit näher kommt, bremst abrupt ab.

»Halten Sie bei der psychiatrischen Klinik in Chuksong?«

Der Fahrer, ein Mittfünfziger, nickt und bedeutet ihr einzusteigen. Sie bezahlt, und während sie sich nach einem Sitzplatz umschaut, fällt ihr auf, dass die anderen Passagiere sie neugierig taxieren. Ist sie eine Kranke? Oder besucht sie jemanden aus der Familie? Hat sie etwas Irres an sich? Argwohn, Misstrauen, Feindseligkeit und Neugier sind in ihren Blicken zu lesen. Sie kümmert sich nicht darum, sie ist daran gewöhnt.

Von ihrem zusammengeklappten Regenschirm tropft das Wasser herunter und hinterlässt schwarze, glänzende Flecken auf dem Boden des Busses. Der Schirm hat nicht verhindern können, dass ihre Bluse und ihre Hose zur Hälfte durchnässt sind. Der Bus beschleunigt wieder auf der regennassen Straße. Mühsam ihr Gleichgewicht haltend, wankt sie im Gang nach hinten. Dort sind zwei nebeneinanderliegende Sitze frei, und sie entscheidet sich für den Fensterplatz. Sie kramt aus ihrer Handtasche ein Papiertaschentuch heraus und wischt die beschlagene Scheibe frei. Mit dem selbstbewussten Blick einer Frau, die an Einsamkeit gewöhnt ist, betrachtet sie die Regentropfen, die gegen das Fenster prasseln. Hinter Masok führt die Straße durch einen Wald, der durch den sintflutartigen Juniregen wie eine riesige Bestie wirkt, bereit loszubrüllen. Als der Bus den Anstieg am Berg Chuksong erreicht, wird die Straße schmaler und kurviger. Der Wald rückt näher heran, sein nasser Körper wiegt sich hin und her. War es hier irgendwo gewesen? Hatte man vor drei Monaten ihre Schwester Yong-Hye hier gefunden? Sie stellt sich dunkle Winkel vor, versteckt unter von Sturm und Regen gepeitschten Bäumen. Schließlich wendet sie sich ab.

Man sagte ihr, Yong-Hye sei bei einem unbewachten Spaziergang verschwunden, zwischen zwei und drei Uhr am Nachmittag. Der Himmel war bedeckt gewesen, aber es regnete noch nicht, so dass den leichteren Fällen erlaubt worden war, wie gewöhnlich spazieren zu gehen. Um drei Uhr stellte das Pflegepersonal fest, dass Yong-Hye nicht zurückgekehrt war. Es begann zu regnen. Alle Angestellten der Klinik wurden in Alarmbereitschaft versetzt. Die Bürokräfte sperrten sofort die Zufahrt ab, damit kein Bus und kein Taxi mehr passieren konnte. Entweder war die Verschwundene schon in Masok, wenn sie es aus den Bergen herausgeschafft hatte, oder sie war tiefer in den Wald hineingeraten.

Je weiter der Nachmittag voranschritt, desto dichter wurde der Regen. Wegen des schlechten Wetters wurde es früher dunkel, als es im März eigentlich üblich war.



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